Wie wir uns von inneren Fesseln befreien
Warum sind wir häufig alles andere als frei?
Wir alle wünschen uns, ein Leben in Harmonie und in „Freiheit“ zu führen.
Wenn wir vor den unzähligen Möglichkeiten stehen, die uns das Leben bietet, stellen wir fest, dass diese „vermeintliche Freiheit“ einem Gefühl der „Überforderung“ gleichkommen kann.
Mit Erstaunen beobachte ich viele hoch talentierte, charismatische Menschen, die sich offensichtlich NICHT frei im Leben bewegen. Es wirkt, als seien sie in unsichtbaren Fesseln eingeschnürt- sie fliegen nicht wie ein bunter Schmetterling durch die Lüfte, sondern gleichen eher einer Raupe im Kokon, die nur mühsam Luft bekommt. Da ist beispielsweise die äußerst attraktive und hinreißende Lady – nennen wir sie Kate-, die in einem früheren Berufsleben Schauspielerin war. Jeder sieht es ihr hunderte von Meter gegen den Wind an- sie verfügt über magnetische Anziehungskraft und hat mit Sicherheit Bühnenpräsenz. Bestimmt hat sie mit ihrem magischen Augenaufschlag schon vielen den Kopf verdreht. Beim näheren Betrachten ihrer Lebensumstände wird klar: Sie lebt ihr volles Potential nicht im Geringsten. Sie ist weder im Beruf noch privat jemals an dem Punkt angekommen, den man ihr aus der Ferne ohne weiteres zutrauen möchte. Sie wirkt nicht „frei“, „gelöst“- sondern durch irgend etwas nicht Greifbares „gefesselt“. Sie selbst ist sich dessen teilweise bewusst und leidet darunter, sie nimmt alle möglichen Anläufe, sich diese Fesseln vom Leibe zu reißen. Sie sucht Berater auf, nimmt an Retreats teil, liest einen Ratgeber nach dem anderen. Dennoch scheint sie offenbar auf der Stelle zu treten. Mit der Zeit stellt sich bei ihr ein resignierter und trauriger Gesichtsausdruck ein. Sie hat bereits so vieles ausprobiert, so sehr an sich gearbeitet – vielleicht findet sie sich damit ab, dass sie in diesem Leben eben nie wirklich frei sein wird. Frei wovon?
Je mehr Menschen ich in unserer Gesellschaft beobachte, desto mehr unsichtbare Fesseln nehme ich wahr. Diese Fesseln nehmen unterschiedlichste Gestalt an. Beim einen äußern sie sich durch zwanghaften Umgang mit dem Handy- es ist morgens nach dem Aufwachen das Erste, abends vor dem Einschlafen das Letzte, was ihn bewegt. Könnte er etwas in dieser Welt verpasst haben? Er nimmt nicht mehr wahr, dass er nicht selbst und eigenständig lebt, – sondern von der virtuellen Welt, von der Informationsflut, von den unzähligen schrecklichen Nachrichten der Tagespresse- auf seinem Handy- ferngesteuert ist.
Beim anderen zeigen sich die unsichtbaren Fesseln darin, dass er sich blindlings in Aktionismus stürzt. Von morgens bis abends ist er rundum beschäftigt. Sonst- so ist seine insgeheime Befürchtung- hat sein Leben keinen Sinn. Sonst verschwendet er nur seine Zeit, wird er nicht gebraucht, geschweige denn geliebt. Auch Überzeugungen, Identifizierungen, Manipulationen von außen, gesellschaftliche Erwartungen, lang etablierte Glaubenssätze, innere Muster, Affirmationen, Versprechen, Verwünschungen, Verträge, Vereinbarungen können Fesseln sein.
Die hinreißende Schauspielerin Kate ist also nicht allein mit ihrem Schicksal- die unsichtbaren Fesseln scheinen ein gesellschaftliches, kollektives Thema zu sein. Warum sind wir nicht frei? Auf welche Weise sind diese inneren Fesseln entstanden, die uns so sehr bremsen, uns bisweilen sogar bewegungsunfähig machen?
Das Tröstliche ist: Diese Fesseln sind jederzeit veränderbar. Es sind innere Ketten, die wir uns häufig (mit ein paar Ausnahmen) selbst im Laufe unserer Entwicklung angelegt haben. Die Motive dafür können unterschiedlichster Natur sein. Häufig waren die inneren Ketten eine Art Schutz. Zum Beispiel haben wir uns bereits als Kleinkinder gewisse Schutzmechanismen zugelegt, um in der Welt der Erwachsenen zu bestehen. Wir haben früh gelernt, mit welchen Verhaltensweisen wir Aufmerksamkeit und Liebe von unseren Eltern bekamen, beispielsweise häufig verbreitet bei Frauen- bereits früh in die Rolle des „lieben Mädchens“ zu gehen, um dafür geliebt und anerkannt zu werden. Die wahre Persönlichkeit jenseits dieser Fassade ist aber nicht lebendig. Wir leben nicht selbst, wir werden gelebt.
Manchmal übernehmen wir unbewusst „kollektive Fesseln“, wie zum Beispiel das Phänomen der kollektiven Existenzangst hierzulande, das noch aus Kriegszeiten vor Generationen stammt. Wir wachsen mit dem kollektiven Bewusstsein auf, dass die Lebensgrundlage etwas Unsicheres ist, worüber wir uns Sorgen machen sollten. Es klingt zwar fast paradox- das ausgerechnet in einem Sozialstaat und „Wohlfühl-Land“ wie Deutschland.
Diese Sorgen lassen uns häufig unfrei sein- zum Beispiel führen sie dazu, dass wir in der Berufswahl nicht unserem Herzen folgen, sondern einem Sicherheitsbedürfnis, das nicht unseres ist, sondern das uns auferlegt wurde.
Gefesselt sind wir zwar bewegungsunfähig, gleichzeitig geschützt vor unerwarteten Eruptionen und Bewegungen.
Diese inneren Bande haben die Konsequenz, dass unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten manchmal ein Leben lang limitiert bleiben, obwohl die objektiven Gegebenheiten mehr Wachstumspotential erlauben würden.
Unsere permanenten Zweifel an uns und unseren Fähigkeiten, unsere ständige Angst, nicht zu genügen, lässt uns die „inneren Fesseln“ nicht sprengen. Wir akzeptieren sogar, dass unsere Möglichkeiten beschränkt sind und suchen die Entschuldigung dafür bei anderen und in äußeren Gegebenheiten. Es kommt in der Regel nicht zur Erkenntnis über unsere eigenen inneren Fesseln. Die Erkenntnis darüber kann auch sehr schmerzhaft sein. Wer möchte schon wahrhaben, dass er selbst daran beteiligt war, sein eigenes „Gefängnis“ zu kreieren?
An diesem Punkt ist Mitgefühl für uns selbst sehr wichtig.
WIR SIND NICHT UNSERE INNEREN FESSELN.
Wie befreien wir von diesen selbst auferlegten Beschränkungen?
Der erste Schritt in die Befreiung ist das Bewusstsein darüber, dass diese Fesseln existieren.
In einem zweiten Schritt dürfen diese Fesseln achtsam aufgespürt werden. Wir gehen in die Absolute „Jetzt-Präsenz“ und erfahren, dass WIR DIESE FESSELN NICHT SIND. Mit der Praxis der Achtsamkeit beobachten wir uns und wie wir tagtäglich mit den Fesseln operieren. Wir entwickeln ein Gespür dafür, wann wir wir selbst sind und wann die Fesseln eingeschaltet sind.
Sodann lösen wir diese inneren Fesseln immer weiter auf und treten entsprechend in Aktion. Dies kann ein Prozess von unterschiedlicher Zeitdauer sein. Manchmal geschieht es über Nacht, manchmal kann es Monate oder sogar Jahr(zehnt)e dauern, bis diese alten Mechanismen abgebaut sind. Professionelle Hilfe ist an diesem Punkt sehr empfehlenswert.
Je mehr absolute Jetzt-Präsenz wir über diese inneren Beschränkungen in unser Bewusstsein bringen, je mehr wir uns über unsere wahre Essenz jenseits dieser Ketten bewusst werden, desto leichter fällt es uns, uns endgültig von ihnen zu befreien und die ersehnte Freiheit Wirklichkeit werden zu lassen.
Die Raupe ist ihrem Kokon entwachsen und die Phase als Schmetterling beginnt.