Selbstmitleid, Selbstmitgefühl und Selbstliebe-
-warum es für einen Neubeginn manchmal notwendig ist, alles fließen zu lassen und was dies mit kollektiver Empathie zu tun hat
Hast Du das schon einmal erlebt: Der Wecker klingelt, Du wachst morgens auf und Dein erstes Gefühl ist: Alles um Dich herum und in Dir fühlt sich dunkel an? Und die vertraute Gedankenlawine stürzt wieder einmal über Dich herein.
Deinen Job übst Du nur ungern aus, jeden Tag schleppst Du Dich lustlos dorthin und zählst die Minuten bis zum Feierabend.
Deine Partnerin hat sich von Dir getrennt, Du bist alleine, einsam, leidest unter Liebeskummer, für den Du keine Worte findest. Deine Freunde verstehen Dich an diesem Punkt nicht. „Die hat doch sowieso nicht zu Dir gepasst“ sagen sie, „sei froh, dass es vorbei ist.“ Du aber willst eben nur diese eine und kannst keine Lebensfreude mehr empfinden.
Allen anderen geht es besser als Dir. Niemandem ist jemals so viel Ungerechtes widerfahren wie Dir. Du kommst kaum in die Höhe, sondern bist gelähmt vor Erschöpfung und versinkst in Gefühlen wie Trauer, unterdrückter Aggression, Enttäuschung, Ernüchterung, stiller Verzweiflung. Du kämpfst Dich mit der letzten Kraft zur Arbeit, ansonsten ziehst Du Dich von der Außenwelt zurück, verlässt das Haus nicht mehr, guckst abends eine Serie nach der anderen, ernährst Dich von Fast Food, leidest unter Schlaflosigkeit, gleichzeitig findest Du keine Worte für diese Abgründe, die sich in Dir auftun.
Die Menschen, die Du in den Cafès siehst, lachen und sind unbekümmert. Du beneidest sie für ihre Leichtigkeit, die Dir abhandengekommen ist.
Du bist ratlos und Du weißt nicht, wie Du jemals aus diesem Gefühlsloch herauskommen wirst. Das Einzige, was Du weißt, ist, dass dieses abscheuliche Gefühl eines Tages vorübergezogen sein wird, Du erlebst es nicht zum ersten Mal. Auch Gefühle verändern sich, das hast Du bereits erfahren. Erinnerst Du Dich noch an die erste große Katastrophe Deiner Kindheit? Du hast den so sehnlich erwünschten Hund niemals bekommen und hast deshalb ein Jahr lang abends leise ins Kissen geweint? Du hast zuhause vor Übermut ein Rad geschlagen, dabei versehentlich die Ming Vase zerstört und deshalb ist Deiner Mutter im Affekt die Hand ausgerutscht- vor Schreck und Schmerz über ihren Ausbruch hat es Dir wochenlang die Sprache verschlagen?
Ja, das waren Katastrophen- heute- Jahre oder Jahrzehnte später- ist davon nichts mehr übrig. Sie sind überwunden. Genau so wird es Dir mit dem heutigen Auslöser für Dein Selbstmitleid gehen. Im Gegenteil: Im Laufe der Jahre verändert sich die Perspektive häufig! Es kommt durchaus vor, dass wir im Nachhinein dankbar für die vermeintlichen „Katastrophen“ in unserem Leben sind. Vielleicht wirst Du doch eines Tages erkennen, dass die Ex-Partnerin, die Dich schmählich verlassen hat und Dir gerade Selbstmitleid bereitet, wirklich nicht zu Dir gepasst hat und die Trennung ein wertvoller Schutz für Dich war.
(Rat-)Schläge wie „Stell Dich doch nicht so an“ oder „Reiß Dich zusammen“ „Versuch mal Yoga und Meditation“ mögen zwar gut gemeint sein, helfen jedoch in den seltensten Fällen weiter.
Selbstmitleid existiert, seit es Menschen gibt.
Vielleicht ist diese Erkenntnis ja tröstlich für uns alle. Ich persönlich bevorzuge übrigens den Begriff „Selbstmitgefühl“ anstatt „Selbstmitleid“.
Wir sind keine „weinerliche Waschlappen“, wenn uns dieses nagende Gefühl ab und an ereilt und wir uns diesem Gefühl hingeben.
Jeder hat es bereits erlebt, allerdings spricht nicht jeder gerne darüber.
Es gibt ein kollektives Tabuthema: Wir dürfen offenbar nicht zeigen, wie sehr wir leiden, obwohl jeder von uns leidet. Die Menschheit leidet seit Menschengedenken, die Welt ist ein Ort mit Licht UND Schatten, jede/r von uns hat bereits viel Leid gesehen und erfahren.
Ein Leben ohne Leid ist eine Illusion.
Können wir die Freude nicht stärker empfinden, eben gerade WEIL wir bereits Leid erfahren mussten?
Wie können wir authentisch sein, wenn wir nur unsere Lichtseiten zeigen dürfen, wenn wir den ganzen Tag nur lächeln, strahlen und gut drauf sein dürfen? Wie empathisch ist eine Welt, die uns dafür verurteilt – sobald wir unser authentisches Selbstmitgefühl zeigen und auf das allseits flüchtig in den Raum geworfene „Wie geht es Dir?“ nicht die leere Formel „Danke, gut“ antworten, sondern stattdessen eine Träne, die aus unserem tiefen Empfinden kommt, zeigen? Ist das ehrliche Gefühl nicht viel motivierender für die anderen, die ihre ungeweinten Tränen tagtäglich mühsam zurückhalten und damit den kollektiven Schmerzkörper der Trauer nähren- sich auch einmal authentisch zeigen zu dürfen?
Deswegen empfehle ich immer, sich dem Selbstmitgefühl bedingungslos hinzugeben.
Seid mitfühlend mit Euch selbst, seid so liebevoll zu Euch, wie es Euch nur möglich ist.
Nehmt Euer inneres Kind an die Hand, nehmt es liebevoll in den Arm und tröstet es. Niemand kann es besser verstehen als IHR SELBST. Kümmert Euch um dieses zart besaitete Wesen. Es darf weinen, jammern, klagen, denn die Welt bringt uns immer wieder zum Weinen. Nehmt Euch Hilfe an die Hand, seien es Freunde, Coaching, therapeutische Begleitung oder ein Malkurs.
Was auch immer Euch guttut, ist erlaubt!
Nach jedem Gewitter folgt wieder Sonnenschein. Das Kind wird wieder aufstehen, lachen, toben, spielen, tanzen, tollen und lebendig sein.
Je mehr Ihr Euch dem wahren Selbstmitgefühl hingebt, desto früher wird der Impuls folgen, aufzustehen, die letzte Träne aus dem Augenwinkel zu wischen, Euch einen Ruck zu geben, die Ärmel hochzukrempeln und Euer Leben tatkräftig anzupacken! Eines Tages werdet Ihr aus einer anderen Perspektive betrachten, dass Ihr an der kleineren oder größeren Katastrophe wieder ein Stück gewachsen seid…